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„Der ganze Bestand muss unter die Lupe!“ Sammlungskuratorin Dr. Sabine Meister im Interview

5. März 2021

Bröhan-Museum: Frau Dr. Meister, seit Anfang dieses Jahres sind Sie im Bröhan-Museum als Sammlungskuratorin tätig. Das heißt, Sie betreuen die Sammlung des Hauses mit dem Schwerpunkt Provenienzforschung. Worauf bezieht sich dieser Begriff, „Provenienzforschung“?

Sabine Meister: Das Wort Provenienz kommt aus dem Lateinischen: „provenire“ heißt „herkommen“ oder „abstammen“. Es wird also die Geschichte eines Objekts nach seiner Fertigstellung untersucht. Uns interessiert, wo sich das Objekt seit seiner Entstehung befunden hat, wer es gekauft hat, in welchen Sammlungen es war – und zwar von seiner Entstehung im Atelier der Künstlerin oder des Künstlers bis heute. Der Fachbegriff „Provenienzforschung“ hat sich in den letzten 20 Jahren etabliert. Der Hintergrund ist die politische Aufarbeitung der Folgen des Nationalsozialismus. Heute befinden sich immer noch viele Kulturgüter in öffentlichen Sammlungen, die während der NS-Zeit Menschen unrechtmäßig entzogen worden waren. Das betraf Menschen, die wegen ihrer ethnischen Herkunft, ihrer politischen Haltung oder wegen ihrer Religion verfolgt wurden, insbesondere Menschen jüdischen Glaubens.

Ausgangspunkt dieser Neubetrachtung der Besitzansprüche ist die sogenannte Washingtoner Konferenz. 1998 hatten Kunsthändlerinnen und Kunsthändler sowie Museumsdirektorinnen und Museumsdirektoren in den USA die Washingtoner Prinzipien entwickelt. Ein Jahr später hat die Bundesrepublik Deutschland darauf aufbauend die „Gemeinsame Erklärung“  zum Umgang mit NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut für öffentliche Einrichtungen entwickelt und durch die Handreichung zu ihrer Umsetzung ergänzt. Das Ziel ist es, dieses Kulturgut zu restituieren, also den Nachfahren zurückzugeben.

BM: Nehmen wir ein öffentliches Museum, das eine Sammlung von Werken der Renaissance besitzt, die in den 1950er Jahren dem Museum geschenkt wurden. Das heißt, weder die Entstehung der Objekte noch ihre Schenkung erfolgten in der NS-Zeit. Warum ist hier Provenienzforschung trotzdem notwendig?

SM: Provenienzforschung sollte immer dann durchgeführt werden, wenn die Objekte zur Risikogruppe des NS-verfolgungsbedingten Entzugs gehören. Das erkennt man an zwei Merkmalen: Erstens muss das Objekt vor dem 8. Mai 1945 (Ende des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs) entstanden sein. Zweitens muss das Objekt nach dem 30. Januar 1933 (Beginn des NS-Regimes) erworben worden sein.

Beides trifft auf Ihr Beispiel zu. Die Renaissance-Werke sind (mehrere Jahrhunderte) vor 1945 entstanden und sie wurden nach 1933 geschenkt. Man muss in diesem Fall also prüfen, ob die Werke von dem Schenkenden zudem nach 1933 erworben wurden. Dann könnte es sein, dass sie während der NS-Zeit beispielsweise einer jüdischen Kunstsammlerin verfolgungsbedingt abgepresst wurden, zum Beispiel, weil sie Deutschland verlassen und aufgrund ihrer Notsituation Hab und Gut – zu Niedrigpreisen – verkaufen musste. Genau solche Umstände werden dann etwas sperrig, aber sachlich korrekt als „verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut“ bezeichnet.

BM: Was ist mit Werken, die ihren Besitzern in anderen historischen Zeiten außerhalb der NS-Zeit zu Unrecht entzogen wurden?

SM: Das Bewusstsein über zu Unrecht entzogenes (geraubtes, abgepresstes, außer Landes geschafftes) Kulturgut hat in den letzten Jahren dazu geführt, auch die Enteignungen in der Zeit der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR sowie die Kolonialzeit Europas in den Fokus zu nehmen. Dazu gibt es viele neue Untersuchungen. Enteignungen des DDR-Regimes sind für die Forschung im Bröhan-Museum ebenfalls relevant, weil sich in der Sammlung einige Objekte befinden, die aus der DDR angekauft wurden.

BM: Die zwei Merkmale, die Sie gerade genannt haben, treffen auch auf die Sammlung des Bröhan-Museums zu: Der Museumsgründer Karl H. Bröhan hat in den 1960er Jahren mit dem Sammeln begonnen und sein Sammlungsschwerpunkt endet in den 1930er Jahren. Muss somit der ganze Museumsbestand untersucht werden?

SM: Genau! Tatsächlich gehört jedes Objekt des Bestandes zur Risikogruppe, da die Sammlung erst nach der NS-Zeit aufgebaut wurde und all die Werke darin vor 1945 entstanden sind. Also muss der ganze Bestand unter die Lupe genommen werden.

BM: In welchem Entwicklungsstand befindet sich dieser Prozess derzeit?

SM: Wir stehen ganz am Anfang. Ungefähr 200 Objekte der Gemäldesammlung habe ich bereits einer ersten Einschätzung unterzogen. Das geschah im Rahmen der Bestandsaufnahme Gemäldesammlung, die ich vor zwei Jahren in einem Provenienzforschungsprojekt durchgeführt habe. Sechs Werke stellen sich bislang als unbelastet heraus. Bei der großen Mehrzahl sind weitere Prüfungen notwendig. Dann kommen die anderen Sammlungsbereiche an die Reihe.

BM: Mich würde interessieren, wie geht man beim Forschungsprozess vor? Welcher Weg führt zur Entdeckung des Unrechts in der Geschichte eines Objektes?

SM: Bei jedem Werk ist der Weg ein anderer. Gibt es eine Restitutionsanfrage, hat man dadurch oft bereits zu Beginn genauere Angaben zur Vorgeschichte des früheren Sammlers und vielleicht auch zu Ort und Zeitpunkt des Verkaufs, auf der man in der Forschung aufbauen kann.

Außerdem es gibt Werke, bei denen die Forschung einfacher ist, als bei anderen. Eine reale Chance, die Herkunft zu ermitteln, ist bei Unikaten am höchsten, also Ölgemälde und Aquarelle zum Beispiel. Sehr schwer ist es bei Büchern, Radierungen, Möbeln, Silber etc. – immer dort, wo es sich um mehrfach oder in Serie produzierte Objekte handelt. Da ist die Dokumentationslage deutlich schwieriger, um nachzuweisen, dass genau dieses Buch oder dieser Silberlöffel einer bestimmten Person gehört hat.

BM: Sie haben also eine komplexe Aufgabe hier im Bröhan-Museum, da ein Großteil der Sammlung aus mehrfach oder seriell produzierten Werken besteht. Bleiben wir der Einfachheit halber nun bei Gemälden. Man hat ein Ölgemälde, sagen wir eine schöne Landschaft von Leistikow, und möchte wissen, ob dieses Werk seinen Besitzern zu Unrecht entzogen wurde. Was macht man als Erstes?

SM: Leistikow ist ein gutes Beispiel: Zwei Werke von ihm habe ich in den letzten Jahren genauer untersucht. Aufgrund einer Restitutionsanfrage habe ich mir 2019 das Gemälde „Grunewaldsee oder Schlachtensee“ genauer angesehen. Es stellte sich heraus, dass das Gemälde nicht von Leistikow stammt, sondern seine Signatur gefälscht worden war. Die elektronenmikroskopische Untersuchung eines Restaurators bestätigte dies. Das Bild wurde abgeschrieben, die Restitutionsanfrage hatte sich erübrigt. Bei „Wolkenschatten“ meldete sich die frühere Besitzerin, die ihr ehemaliges Gemälde während einer Ausstellung wiedersah. Sie erzählte uns ihre Geschichte. Dadurch konnten wir die entscheidende Lücke in der Provenienz – etwas verkürzt dargestellt – positiv schließen.

Zurück zu Ihrer Frage, wie gehe ich bei der Provenienzforschung vor? Grundsätzlich schaue ich mir als Erstes das Objekt selbst genau an. Zunächst die Vorderseite: Ich gleiche alle Angaben mit dem Inventarblatt ab und prüfe die Signatur, gegebenenfalls stilistische Merkmale des Gemäldes und die Echtheit. Dann untersuche ich die Rückseite – man spricht auch von einer Anamnese – und kläre, ob es Aufkleber, Beschriftungen, Galerie- oder Zoll-Stempel gibt.

Dr. Sabine Meister untersucht die Rückseite des Gemäldes „Landschaft mit Weinbergen bei Meran“ von Walter Leistikow

BM: Was können uns solche Spuren verraten?

SM: Sie erzählen uns immer eine Geschichte. So kann zum Beispiel eine Zahl der Hinweis auf eine Ausstellung oder ein Auktionslos sein. Kann man die Zahl identifizieren, weiß man, in welchem Jahr auf welcher Versteigerung das Bild war. Findet man einen Zollstempel, kann man rekonstruieren, über welche Grenze und in welches Land das Bild gereist ist. Manchmal findet man den originalen Bildtitel von der Hand des Künstlers oder einen Aufkleber eines Rahmenmachers. Oder es gibt einen weißen Aufkleber mit blauem Rand und einer mit schwarzer Tusche geschriebenen Ziffernfolge. Das deutet darauf hin, dass das Werk im „Sonderauftrag Linz“ entwendet wurde und für das geplante Museum Adolf Hitlers in Linz gedacht war. Bislang haben wir noch keinen Linz-Stempel identifiziert.

BM: Hat man das Objekt untersucht, was kommt als Nächstes?

SM: Ich prüfe zusammen mit den Kollegen die Aktenlage im Haus – was oft gleichzeitig mit der Anamnese erfolgt. Man studiert die historischen Unterlagen wie Ankaufs- oder Schenkungsakten, alte, handgeschriebene Inventarbücher und die Korrespondenz. Danach wird die Gegenüberlieferung geprüft, also historische Dokumente, die sich in anderen Archiven befinden, zum Beispiel die Wiedergutmachungsakten aus der frühen Zeit der Bundesrepublik. Alle Informationen, die man zu einem Objekt zusammentragen kann, werden chronologisch aufgelistet, das ist dann die sogenannte Provenienzkette. Zeiträume, über die man (noch) nichts weiß, bleiben frei.

BM: Das klingt nach einem vielschichtigen Prozess, und ich kann mir vorstellen, dass er auch eine lange Zeit dauern kann. Wann ist die Provenienzforschung an einem Werk eigentlich abgeschlossen?

SM: Wenn die Provenienzkette geschlossen ist, wenn also eine lückenlose Darstellung der Herkunft des Objekts erfolgt ist. Diese Fälle sind eher selten. Meistens kann man nur einen vorläufigen Bericht schreiben, weil noch Informationen fehlen und die Akte darum nicht geschlossen werden kann. In diesen Fällen kann noch keine Entscheidung über eine mögliche Rückgabe getroffen werden. Wenn die Herkunft eines Werks vollständig ermittelt ist, zeigt sich, ob es in der NS-Zeit eine unrechtmäßige Enteignung gegeben hatte. Sollte das der Fall sein, ist der nächste Schritt, die Erben zu ermitteln und zu kontaktieren.

BM: Das Bröhan-Museum hat bisher noch kein Werk restituiert?

SM: Genau, bislang gab es noch keine Restitution.

BM: Sie sind seit mehr als 15 Jahren als Provenienzforscherin tätig. Was macht Ihnen in der Provenienzforschung besonders Spaß?

SM: Es macht mir Freude, mehr über ein Werk zu erfahren. Die Provenienzforschung führt mich oft auf ungeahnte und entlegene Pfade. Der Austausch mit Zeitzeugen und Nachfahren ist bewegend und lehrreich. Durch die Forschung leisten wir einen Beitrag, organisiertem Verbrechen durch staatliche Ideologien das Erinnern entgegenzustellen – konkret auf die Zeit des Nationalsozialismus bezogen: das Erinnern an die aktive Teilhabe des jüdischen Bürgertums am Kunst- und Kulturleben vor dem Holocaust. Was mich außerdem beeindruckt ist, dass man durch die zielgerichtete Provenienzforschung viel über die Sammlung und deren Geschichte erfährt – so auch über Karl H. Bröhans große Leidenschaft des Sammelns.

BM: Wie ist Ihr Blick in die Zukunft der Sammlung?

SM: Wir reagieren nicht nur auf Anfragen nach einer möglichen Restitution, sondern das Bröhan-Museum erforscht die Provenienzen proaktiv und drückt damit die gesellschaftliche Verantwortung aus. Dass es jetzt eine feste Stelle für die Provenienzforschung am Haus gibt, die an die Sammlungsbetreuung gekoppelt ist, bietet gute Arbeitsbedingungen, weil beide Bereiche eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beleuchten.

Langfristig ist geplant, die Digitalisierung aller Objekte weiter voranzutreiben und online zu stellen – und das wiederum mit der neuen Forschung zu verbinden. Diese Transparenz ist ein wichtiger Weg des Bröhan-Museums in die Zukunft.

BM: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Alexandra Koronkai-Kiss, wissenschaftliche Volontärin für Vermittlung und Öffentlichkeitsarbeit.