Blog

IM FOKUS // Reaching Out for the Future. Zukunftsfantasien um 1900

19. Juni 2019

Der größte Traum der Menschheit war es seit jeher, von der Erde in den Weltraum und zum Mond zu fliegen. Bevor dieser Traum Realität wurde, fand der erste Raketenstart auf der Kinoleinwand in Georges Méliès „Le Voyage dans la Lune“ (1902) statt. Expeditionen zum Mond, Besiedlung anderer Planeten, Unterwasserwelten und vollautomatisierte Städte – es war die Zeit erstaunlicher Zukunftsbilder. An der Schwelle zum 20.Jahrhundert schien die Welt voller Verheißungen. Das moderne Maschinenzeitalterhatte begonnen und hielt scheinbar unerschöpfliche Möglichkeiten bereit.

Mit der Weltausstellung in Paris 1900 waren die aktuellen Entwicklungen in Technik, Industrie und Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten. Die Anwendung von Elektrizität, die Erfindung des Automobils und der Luftschifffahrt bestärktenden Fortschrittsglauben und eröffneten neue Dimensionen. Beflügelt von literarischen Zukunftsvisionen wie Jules Vernes „Von der Erde zum Mond“ oder„Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ schufen Illustratoren, Karikaturisten undSchriftsteller kühne Prophezeiungen und fantastische Zukunftsbilder. „En l’an2000“ – Dem Jahr 2000 aus der Sicht des 19. Jahrhunderts verschrieben sichZeichner wie Jean-Marc Côté und Villemard. Ihre futuristischen Zeichnungen und bunten Skurrilitäten waren beliebte Sammelbilder, die als Papierkarten in Zigaretten- oder Schokoladenpackungen in Umlauf gebracht wurden. Ein ebenso zum Schmunzeln wie zum Nachdenken anregendes, in manchen Zügen erstaunlich treffsicheres Zukunftsszenario entwarf der französische Zeichner Albert Robida. In den utopischen Bildern seines Science-Fiction Romans „LeVingtième Siècle“ (1883) beschreibt der begabte Utopist mit Hang zur Satire, das 20. Jahrhundert mit seinen neuen technischen Möglichkeiten. Vieles, was die Menschen von der Zukunft erwarteten, ist bis heute nicht eingetreten. Zu große Hoffnungen setzteman etwa um 1910 in die Prophezeiung von Stickstoffdüngern. Turmhohe Kohlköpfe und tonnenschwere Kartoffeln würden den Jahresbedarf einer vielköpfigen Familiedecken, so glaubte man damals.

Auch im frühen Film wurden Zukunftsfantasien intensiv und variantenreich behandelt. Im Stil des Expressionismus entwirft Regisseur Fritz Lang sein monumentalesScience-Fiction-Melodram Metropolis als zweigeteilte Großstadt der Moderne. Faszinierend für die Zeitgenossen war Brigitte Helms Darstellung der Maschinen-Maria als dämonisches Frauenzimmer, „eine gemeine, sündige, teuflisch glatte Schlange“,wie es eine zeitgenössische Kritik beschrieb. Neben bekannten Stummfilmen der 20er Jahre werden in Vergessenheit geratene Ausschnitte des frühen Bewegtbildesin der Ausstellung zu sehen sein. Als Kaleidoskop vergangener Zukunftsträumezeugen die bunt und zum Teil plakativ dargestellten retrofuturistischen Bildervon dem unaufhaltsamen Optimismus und dem romantischen Wunsch phantastischerWelten

Was wäre, wenn? DieseFrage hat sich jeder schon einmal gestellt. Der US-amerikanischeComputerpionier Alan Kay kam zu dem Entschluss, die beste Methode die Zukunftvorherzusagen bestünde darin, sie zu erfinden. Zugleich ist „Reaching Out forthe Future“ der Ausgangspunkt eines großen Outreach-Projekts am Bröhan-Museum, das individuelle und kollektive, gesellschaftliche und soziale Utopien erforschen will. Im Rahmen einer Sommertour wird das mobile Zukunftslabor in verschiedenen Berliner Bezirken präsent sein und zum Nachdenken und Mitgestalten einladen. Visionen und Wünsche der Stadtgesellschaft, die hier Gestalt annehmen, finden als wachsendes Zukunftsporträt wiederum Eingang in die Ausstellung.

Am Ende werden die gesammelten Zukunftsentwürfe in einer Zeitkapsel verschlossen und für die nächsten 100 Jahre im Museum archiviert. Künstlerische Interventionen und Workshops hinterfragen Fact und Fiction und eröffnen dabei Ideen für eine neue Welt.

Text: Nils Martin Müller